„Durch die Corona-Pandemie kam unser Opernbetrieb fast zum Erliegen. Deshalb verfolgten wir die verwegene Idee, nur die Solisten auf der Bühne singen zu lassen und das Orchester sowie den Chor getrennt auszulagern.“ (Karl Ancia, IP-Leiter, La Monnaie)
Das Théâtre Royal de La Monnaie (De Munt) ist ein bekanntes Opernhaus in Brüssel, dessen A/V-Abteilung sich in der Spielzeit 2020-21 mit doppeltem Einsatz darum bemühte, dem Kulturauftrag gerecht zu werden. Wie im Opernhaus Zürich, wo sich der belgische Kulturtempel nach Ideen für die Fortsetzung des Spielplans erkundigt hatte, freute sich das A/V-Team über die Aufgeschlossenheit des Musikdirektors, Alain Altinoglu, gegenüber technischen Hilfsmitteln, um einerseits die Pandemie-Auflagen zu erfüllen und dem Publikum andererseits begeisternde Vorstellungen präsentieren zu können.
Dass auch reine, moderat kostenpflichtige Streaming-Veranstaltungen hervorragende Kritiken bekamen, belegt, wie stark sich die Einstellung innerhalb kürzester Zeit geändert hat und wie perfekt das Konzept des A/V-Teams von La Monnaie aufgegangen ist.
Der Plan
Zu Beginn der 2020-21-Spielzeit wurde La Monnaie klar, dass das Orchester bei den Vorstellungen nicht mehr im recht engen Graben sitzen durfte, weil der Mindestabstand zwischen den Musikern nicht gewährleistet werden konnte.
Deshalb schlug das A/V-Team vor, das Orchester in einem Saal im Gebäude gegenüber der Oper zu platzieren, sein Spiel mit Mikrofonen abzunehmen und per AES67/RAVENNA-Stream ins Opernhaus zu übertragen, wo es abgemischt wurde.
Gleichzeitig wurde dem Chor ein anderer Raum ein Stockwerk über dem Orchester zugeteilt. Auch er sollte mit Mikrofonen abgenommen und als Audiostream ins Opernhaus übertragen werden, wo sich nur noch die Sänger auf der Bühne befinden durften.
Da der Spielbetrieb im Dezember 2020 stillgelegt wurde, hatte das A/V-Team Zeit, auszuprobieren, wie man mit einem SoundScape-System dafür sorgt, dass sowohl das Orchester als auch der Chor im Saal so klingen als würden sie sich im Graben bzw. auf der Bühne befinden. Für eine Produktion wurde zudem ein Kinderchor benötigt, der aus Pandemie-Gründen noch woanders hätte singen sollen. Der Kontakt zwischen den Beteiligten sollte außer mit Audiomonitoren auch über Videokameras und Bildschirme hergestellt werden.
Der gesamte Corona-Plan wurde ausführlich getestet: Es wurden Mikrofone für das Orchester, die beiden Chöre sowie auf der Bühne aufgestellt. Die Bühnenmikrofone waren insofern wichtig, als die Musiker und Chorsänger ja auch die Solisten hören mussten. Letztere sollten im Saal selbst allerdings nicht verstärkt werden. Über diskret platzierte Audiomonitore sollten sie mit den Tonsignalen der übrigen Mitwirkenden versorgt werden.
Die Signalverteilung lief über IP, weil sich Karl Ancia und seine A/V-Kollegen seit längerem viel von den Möglichkeiten dieser Technologie versprechen. Hinzu kam, dass IP in die verwendeten Lawo mc²56-Pulte nicht nur eingebaut ist, sondern wegen der per Glasfaser zu überbrückenden Abstände zudem unerlässlich war.
Ein Ton- und ein Videostudio für Live-Sendungen und die Bearbeitung aufgezeichneter Vorstellungen wurden ebenfalls an das IP-Netzwerk angebunden.
Als alle Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortet waren, kam es dennoch ganz anders: Vom einen auf den anderen Tag durfte kein Publikum mehr eingelassen werden. Der sorgsam erarbeitete und getestete Plan wurde noch nicht einmal für Streaming-Veranstaltungen genutzt.
Immersiver Chorsaal
Bei einem weiteren Anlauf im Februar 2021 sang der Chor für eine andere Produktion tatsächlich im ausgewählten Saal, während das Orchester hinter den Solisten auf der Bühne spielte und nur subtil verstärkt wurde.
Um dem Chor einen möglichst authentischen Höreindruck des Geschehens im Opernsaal zu bieten, entschied sich La Monnaies A/V-Abteilung für die Einzelmikrofonierung der Chorsänger. Das hatte zwei Gründe: Erstens war der Chor stark reduziert und zweitens verfügt jedes Mitglied über ein kleines Mischpult mit einem MORE ME-Regler, um die Balance zwischen sich und den übrigen Signalen zu regeln, denn… alle verfügen über einen Kopfhörer mit einem binauralen, d.h. immersiven Abhörsignal. Hierfür wird ein IP-fähiges Klang-System verwendet.
Im Chorsaal steht ein Lawo mc²56-Pult mit zwei Compact I/O-Einheiten, an welche sowohl die Einzel- als auch mehrere Ambience-Mikrofone angeschlossen sind. Deren Signale werden vorgemischt und als acht Busse per AES67/RAVENNA von einer Nova73 HD Kreuzschiene zum FOH-Pult (ebenfalls ein mc²56) im Opernsaal übertragen.
Gleichzeitig gehen auf dem „Chorpult“ mehrere AES67-Kanäle mit den Orchester- und Sängersignalen ein, die zu einem immersiven Monitormix für den Chor und seinen Leiter aufbereitet werden.
Auf die Frage, ob man mit Einzelmikrofonen einen überzeugenden Chor-Sound erzielt, antwortet der freiberufliche Toningenieur Prosper Derbaudrenghien, dass dies mit ein paar Tricks und WAVES SoundGrid-Effekten sehr wohl möglich ist, zumal ja zusätzlich Ambience-Mikrofone zum Einsatz kommen.
Der Chor hört die Musik und folgt dem Dirigat des Chorleiters. Letzterer befindet sich auch im Chorsaal und trägt ebenfalls einen Kopfhörer mit binauralem Abhörsignal. Zusätzlich sieht er den Dirigenten auf einem Bildschirm neben seinem Notenpult.
Opernsaal
Bei der Tosca-Produktion Anfang Juli 2021 durfte nicht nur Publikum in den Saal – das Orchester spielte sogar im Graben, allerdings mit halber Stärke. Hierfür wurde ein Arrangement in Auftrag gegeben, das es ermöglichte, die Bläserstimmen auf die Hälfte zu reduzieren und mit kleinen Streichersätzen zu arbeiten.
Ein kleines Orchester wirkt bekanntlich weniger imposant und eignet sich somit eher nicht für eine Tosca-Aufführung. Daher wurde beschlossen, mit den an das mc²56 FOH-Pult angebundenen WAVES Plug-Ins und dem d&b D100-System einen „größeren“ Orchestersound zu zaubern. Zusätzlich zu den drei Line-Arrays wurden mehrere d&b-Lautsprecher aufgestellt und in unterschiedlichen Positionen ausprobiert.
Als ein Assistent des Dirigenten den Toningenieur auf den HiFi-Charakter des Orchesterklangs hinwies, dem es im Vergleich zu einem Live-Orchester an tiefen Mitten und Bass mangelte, wurden größere Lautsprecher aufgestellt, ohne das Problem jedoch zu lösen.
Nach mehreren Versuchen stellte sich heraus, dass die Reflexionen aus der Kuppel im Opernsaal die Verfremdung und eine unerwartete Ortung bestimmter
Instrumente erzeugten. Erst mit Wedges im Orchestergraben schlug das A/V-Team zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Klangstaffelung wirkte natürlich und das Orchester klang größer als es in Wirklichkeit war.
Warum überhaupt IP?
„Wir haben uns während der Sanierung von La Monnaie 2016 für ein mc²56-Mischpult entschieden, weil es hervorragend klingt und an ein IP-Netzwerk angebunden werden kann. Alle Kupferkabel wurden im Zuge der Sanierung nämlich entfernt“, erläutert Karl Ancia.
Da man außer Audio- und Video-Streams in Zukunft auch die Bühnenmaschinerie über das Netzwerk steuern möchte, lag die Wahl der IP-Technologie sowieso nahe.
Diese Flexibilität kommt in der Pandemie gerade recht, weil man mit wenig Aufwand flexibel in der Wahl der Standorte bleibt. Außer zwei Lawo-Pulten verwendet La Monnaie zwei Lawo Nova73 HD Kreuzschienen, mehrere A__mic8 Stageboxen, eine Compact I/O- und eine DALLIS-Einheit.
Ein gutes Beispiel für die Flexibilität der Anlage ist die per Skript realisierte Möglichkeit, die Vorverstärker auf der einen Seite (Chorsaal bzw. FOH-Pult) mit der Konsole auf der anderen Seite zu bedienen. Weil außer „Nutzsignalen“ auch unterschiedliche Monitorsignale zwischen den beiden Konsolen ausgetauscht werden, muss der Toningenieur auf der einen Seite öfter auf die Gain-Parameter der anderen Konsole zugreifen können.
Drückt man auf einer Konsole daher USER-Taster 8, übernimmt dieses Pult die Kontrolle über die mit der anderen Konsole verbundenen Eingänge (in den Stageboxen). Dies wurde über den RAVENNA Net-Modus realisiert. Dank IP sind alle Audio- und Videosignale ferner an jedem Ort im Opernhaus sowie im Gebäude gegenüber verfügbar.
Ein weiterer Vorteil des Arista-basierten Netzwerks ist, dass La Monnaie seine Signale in der gewünschten Bearbeitungsstufe an Fernseh- und Radiosender sowie Streaming-Plattformen wie Mezzo Live, Arte Live Web usw. übergeben kann. Das Haus unterhält zusätzlich einen eigenen Streaming-Dienst und ein OTT-Archiv mit aufbereiteten Ausführungen.
Die Unterstützung von AES67 erlaubt auch die vernetzte Integration eines Intercomsystems von Riedel.
Alle relevanten Geräte werden mit einem Tektronix-Gerät synchronisiert, das als PTP-Master-Clock fungiert und gleichzeitig ein LTC-Signal für Pro Tools, den Video-Synchronizer usw. liefert. Für den Fall der Fälle steht eine Nova73 HD als Sync-Generator-Ersatz zur Verfügung.
La Monnaies Netzwerk verwendet Single- und Multimode-Glasfaser sowie CAT-6A-Kabel. WAN-Verbindungen nach außen sind momentan aus Sicherheitsgründen noch nicht implementiert. Eventuelle Fernwartungseingriffe durch einen Techniker werden daher bis auf weiteres über TeamViewer durchgeführt.
Kontakt zur Außenwelt
La Monnaie verfügt über eine gemietete 5-Kamera-
Videoanlage mit einem Kula-Bildmischer sowie über ein Post-Produktionsstudio mit einem 48-Spur Pro Tools-System einer etwas älteren Bauart, das von der nebenan postierten Nova73 HD per MADI mit Audiosignalen versorgt wird und die bearbeiteten Produktionen auf diesem Weg auch wieder ausgeben kann. Falls bestimmte Aspekte vor Pro Tools geändert werden müssen, wird dies mit Lawos mxGUI-Software erledigt.
Die Verbindung der Lawo-Infrastruktur mit der D100 schließlich ist über eine Dante-Karte in einer der beiden Nova73 HD realisiert.
„Obwohl einige Kollegen den Sinn unserer Arbeit vor Corona nicht wirklich erkannten, war unser A/V-Team während der Pandemie nahezu pausenlos eingespannt. Ohne uns hätte es nichts gegeben, das man hätte präsentieren, streamen und/oder aufzeichnen können“, resümiert der Toningenieur Jean-Luc Ongena. Und weist gleich im Anschluss darauf hin, dass die Technik-Aufgeschlossenheit des Musikdirektors das Team zu neuen Denkansätzen und Lösungsvorschlägen geradezu herausgefordert hat.
Lucie Tiriau, die Leiterin der A/V-Abteilung bestätigt: „Ohne zu hoffen, dass demnächst eine weitere Lockdown-Welle auf uns zurollt, muss ich sagen, dass uns die Pandemie die Chance gegeben hat, kreative Lösungen zu entwickeln. Wir sind in jede Richtung viel weiter vorgedrungen als wir es vermutlich sonst getan hätten. Und das Publikum ist begeistert.“