Das Geschäftsmodell der Live-Produktionsbranche ist vielfach von veralteten Arbeitsweisen und unübersichtlichen Kostenstrukturen geprägt. Aus gutem Grund ist es in den letzten Jahren unter Druck geraten – der im vergangenen Jahr weiter zugenommen hat. Dieser Beitrag untersucht, wie die Zukunft der Branche aussehen kann. Dabei hängt das Schicksal der einzelnen Akteure und Unternehmen auch und vor allem von einer starken Vision der Unternehmensführungen sowie einer klaren Rolle der Technologie innerhalb dieser Vision ab.
Einleitung
Welche Lehren können aus der bisherigen Entwicklung der Branche gezogen werden? Wie könnte ihre Zukunft aussehen? Welche Rolle hat die Technologie gespielt und wie wird sie die Zukunft von Event- und Sportproduktionen prägen? – Was die Zukunft bringt, lässt sich nur schwer präzise vorhersagen, aber einige zentrale Themen und Fragen liegen bereits auf der Hand.
Eine kurze Geschichte der Live-Produktion – voller Widersprüche
Schon seit den Tagen der ersten eigenen Live-Produktionen sehen sich Sendeanstalten und Provider mit einem grundsätzlichen Widerspruch konfrontiert: Je mehr ein Projekt kostet, desto geringer ist der Umsatz. Traditionell setzt sich eine vom Service Provider initiierte Live-Produktion aus fünf Bereichen zusammen:
1.Kameras und Objektive;
2.Wiedergabeserver und Aufzeichnung;
3.Produktionsinfrastruktur;
4.Crew;
5.Reise- und andere Kosten (z. B. für Flüge und Unterkunft)
Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass die Provider den Sendern einen geringen Betrag für die Infrastruktur und die Einrichtung in Rechnung stellen. Die Wertschöpfung erfolgt durch die Kameras, Objektive, Wiedergabeserver sowie die Aufzeichnungen. Wenn Sender inhouse investierten, wurden die Kosten als Assets angelegt, die sich durch intensive Nutzung rentieren sollten. Darüber hinaus mussten sich Service Provider und Sendeanstalten aufgrund der Vielfalt an möglichen Produktionen so aufstellen, dass sie problemlos maximal komplexe und umfangreiche Projekte umsetzen können. Solche Produktionsvorhaben sind jedoch eher selten und die Mehrheit der Events benötigt tatsächlich nur einen kleineren Teil der vorhandenen Materialien und Ressourcen. Daraus resultieren eine insgesamt ineffiziente Nutzung der existierenden Infrastruktur und eine signifikante Einschränkung der Amortisationsmöglichkeiten. Im Grunde werden Fundament und Rückgrat des Geschäfts so nicht ausreichend monetarisiert – mit den entsprechenden Konsequenzen auf der Kostenseite.
Aus betrieblicher Sicht können Personal, Reisen und Spesen einen hohen Einfluss auf die Gesamtkosten haben. Aber das ist abhängig vom jeweiligen Land. So haben in den Niederlanden die Service Provider in der Regel viele Vollzeitmitarbeiter. Das bedeutet: Sie sind weniger auf Freiberufler angewiesen und können einen Aufschlag auf die Personalkosten erheben. In anderen Ländern wie Spanien, Frankreich oder Großbritannien liegen Reisekosten und Spesen tendenziell höher.
Dieses Geschäftsmodell ist typisch für Unternehmen, die hauptsächlich Outside-Broadcast-Dienste anbieten. Und es funktioniert dann am besten, wenn die genutzte Infrastruktur in der Größenordnung der Anzahl der Kameras und Wiedergabeserver entspricht.
Genau das ist jedoch nicht oft der Fall. Bei einer uni-lateralen Produktion beispielsweise wird eine größere Infrastruktur zur Unterstützung des komplexen Workflows benötigt, aber nur wenige Kameras. Full-Service-bietende Sendeanstalten und Unternehmen, die das gesamte Ökosystem von der Kameraaufnahme bis zur Ausstrahlung abdecken, sind davon weniger betroffen als die unmittelbaren Service Provider.
Im Grunde lassen der fehlende Profit und der Druck auf die CapEx-Umsätze dieses Geschäftsmodell langfristig als kaum tragbar erscheinen.
Anfang der 2000er Jahre: Auftritt IP
IP wurde ursprünglich als niedrigschwellige, kostengünstige Möglichkeit angesehen, die eine ganze Branche von innen heraus verändern würde.
Zum ersten Mal kam IP in den frühen 2000er-Jahren bei Live-Beiträgen und Remote-Produktionen zum Einsatz. Die für die WAN-Konnektivität zuständigen TK-Provider hatten um die Jahrtausendwende mehrheitlich auf IP umgestellt. Das machte die entsprechenden Produktionen günstiger, da die Bandbreite viel billiger geworden war. Zudem gab es für den Transport über WAN schon früh einen Standard (SMPTE ST 2022-6).
Aber als die Möglichkeiten für Live-Produktionen erweitert wurden, bedurfte es auch einer Weiterentwicklung der Standardisierung. Aus diesem Grund setzten sich viele Unternehmen, darunter Sony und Nevion, für Standards wie AMWA NMOS und SMPTE ST 2110 ein. Damit schufen sie eine gemeinsame IP-Sprache, die alle verstehen und nutzen konnten. Doch die Etablierung von Standards war nur der erste Baustein für Sendeanstalten und andere Akteure in der Branche, die ihr Geschäft durch IP transformieren wollten.
Ein historisches Ereignis – die Corona-Pandemie ab 2020
Für die Live-Produktionsbranche war die Pandemie ab dem Frühjahr 2020 ein einschneidendes Ereignis. Während die Nachfrage nach neuen Inhalten enorm wuchs, versiegte gewissermaßen die Quelle für jegliche Live-Inhalte von Sport über Theater bis zu Konzerten.
Dies zwang die Branche zu einem ernsthaften Umdenken. Bis dahin waren Business Transformation, IP, Cloud, 5G und KI für die meisten „nur“ Konzepte, aber noch keine existenzielle Realität. Plötzlich aber wurde „Remote“ zur neuen Norm. Für Service Provider und Broadcaster bedeutete das: Sie mussten sich ihre Infrastruktur genau ansehen und gegebenenfalls deren Schwächen bewerten.
Zwar sind Transport- und Personalkosten durch den Wegfall vieler Live-Produktionen drastisch gesunken.
Die Ausrüstung bleibt dadurch jedoch oft monatelang ungenutzt, wenn sie nicht in der Lage ist, eine Verbindung zu einem Netzwerk bzw. der Cloud herzustellen. Es gab durchaus Alternativlösungen; neue Arbeitsabläufe wurden etabliert – aber je länger die Pandemie andauert, desto stärker beginnen die Akteure, langfristig über ihr Geschäft nachzudenken. Ihre zentrale Frage: Wie kann ihr Geschäftsmodell nachhaltig und langfristig wachstumsfähig werden?
Natürlich ist die Pandemie für die Branche ein Fluch – aber sie kann sich auch als Chance zum Wandel erweisen.
Für die Zukunft und darüber hinaus
Heute ist es für zuverlässige Prognosen vielleicht noch zu früh, aber die lange herbeigeredete und -ersehnte Transformation der Branche ist endlich in erreichbare Nähe gerückt. Sie hängt jedoch von mehreren Bedingungen ab, die über das Ende der Pandemie hinausreichen. Erstens braucht es einen echten Mentalitätswechsel.
Kleine Schritte wie etwa die Nachrüstung bestehender Geräte auf die nächste Iteration sind hier nicht mehr gefragt. Wenn es um Investitionen in die Technologie geht, sollte man das Thema IP nicht mit einer SDI-Mentalität abhandeln. Hier muss größer, ganzheitlicher und langfristiger gedacht werden. Unternehmen haben hier gleich mehrere Ausgaben: Sie müssen sich mit den Marktveränderungen ebenso auseinandersetzen wie mit ihren eigenen Zukunftsvorstellungen.
Wer aber sind die neuen Akteure, welche sind die neuen Kanäle, wer sind die neuen Talente, wo und wann stehen neue Möglichkeiten zur Verfügung? Und woher soll der Gewinn kommen? Fragen, die beantwortet werden wollen, bevor die Reise beginnt.
Sind die Antworten gefunden und ausformuliert, kommt die Technologie als Schlüssel zur Umsetzung aller Visionen ins Spiel. Doch kann sie immer nur Instrument sein, nie die Vision selbst.
Hier hat sich der Fokus verschoben. Wir alle haben gemerkt, wie schwierig der Wandel sein kann. Doch es gibt Experten mit viel Erfahrung. Sie wissen, wie Technologie auf modulare Art genutzt werden kann, damit sie Unternehmen die Bausteine für ihre Vision liefern können. 5G-, Cloud-, KI-, IP- und SDN-Technologien werden dabei sicher zum Einsatz kommen, aber sie sind „nur“ Mittel zum Zweck. Cloud-Technologie holt in der Live-Produktion in puncto Geschwindigkeit, Sicherheit und Leistung schnell auf, ist aber noch nicht ganz für Premium-Eventproduktionen geeignet. Auch 5G eröffnet viele Möglichkeiten, sollte aber stets als Bestandteil eines größeren Ökosystems gesehen werden. Das EU- geförderte 5G Virtuosa-Projekt unter Leitung von Nevion, Logic Media und Mellanox treibt die Forschung rund um dezentrale und verteilte Produktionen in Kombination mit IP und 5G weiter voran.
Smarte Technologie wird immer unsichtbarer – der ultimative Beweis für effektive und effiziente Technologie wird künftig ihre physische Abwesenheit sein, während sich die Branche hin zu Cloud-, IP- und 5G-basierten Infrastrukturen verlagert. Damit verschwindet sie nicht nur aus der unmittelbaren Umgebung der Produktion, sondern auch aus den Köpfen der Beteiligten. Der wahre Beitrag und Erfolg von Technologie ist am Ergebnis der kreativen Arbeit abzulesen. Und sie wird nur dann Früchte tragen, wenn sie von Menschen verwaltet und implementiert wird, die über die Fähigkeiten und Talente verfügen, alle vorhandenen Möglichkeiten zu erschließen. Dann kann der Nachfrage nach Events auf ganz neue Art entsprochen werden – und die Welt wird wieder aufregend.